Gustav Mahler: Zehnte Sinfonie

Forschung

21.04.2020
Musik
Notenblatt mit Notizen in Türkis, oben rechts steht "Das besondere Objekt"
Eine Komposition als Zeugnis einer tragischen Liebesgeschichte. Der virtuelle Expertenvortrag zum aktuellen "besonderen Objekt“.

Autor: Thomas Leibnitz

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Finale Krise einer Ehe

Die Komposition der Zehnten Sinfonie fällt in die Zeit einer schweren Krise im Leben Gustav Mahlers, die der Komponist wohl als die tiefgreifendste seines Lebens ansah. Die finale Krise seiner Ehe durch die Beziehung seiner Frau Alma zum jungen Architekten Walter Gropius erreichte im Sommer 1910 ihren Höhepunkt. Es scheint, dass Gropius eine Entscheidung herbeizwingen wollte. Er schrieb an Alma, dass er ohne sie nicht leben könne und dass sie, wenn sie nur das geringste Gefühl für ihn hätte, alles verlassen und zu ihm ziehen solle.

Das Kuvert adressierte Gropius an: „Herrn Direktor Mahler“. Mahler, zu dieser Zeit in seinem Urlaubsort Toblach, war vom Inhalt des Schreibens zutiefst erschüttert. Es folgten schonungslose Aussprachen zwischen den Ehepartnern, die Alma Mahler in ihren Erinnerungen festhielt: „Was jetzt kam, ist unsagbar! Wie ich mich jahrelang nach seiner Liebe gesehnt hatte, und wie er, in seinem ungeheuren Missionsgefühl, mich einfach übersehen hatte. Er fühlte zum ersten Mal in seinem Leben, dass es auch so etwas wie eine innere Verpflichtung gegen den Menschen gibt, dem man sich nun einmal verbunden hat. Er fühlte plötzlich Schuld.“ Auch Gropius kam nach Toblach und wurde in die Gespräche einbezogen. Ein klares Ergebnis kam nicht zustande: Alma blieb bei Gustav Mahler, gab aber auch die Beziehung zu Gropius nicht auf. Ein unmittelbares Zeugnis dieser Krise sind die emotionalen Eintragungen, die Mahler in das Manuskript der zu dieser Zeit skizzierten Zehnten Sinfonie machte.  

Gustav Mahler, 1907

Erbarmen!! O Gott!

In dieser letzten Komposition konnte Mahler nur den ersten Satz, das Adagio, in Partitur vollenden. Der folgende Satz, ein Scherzo, liegt zwar ebenfalls in Partiturform vor, weist aber große Instrumentationslücken auf. Vom dritten Satz („Purgatorio“) an, von dem nur eine Partiturseite existiert, ist das Werk bis zum Schluss nur noch als Particell auf drei bzw. vier Systemen notiert. Mehr noch als in anderen Manuskripten gibt Mahler hier Einblicke in seine psychische Situation:

„Erbarmen!! O Gott! O Gott! Warum hast du mich verlassen? Dein Wille geschehe!“

Dies schrieb Mahler in den Entwurf des dritten Satzes; am Beginn des vierten ist zu lesen:

„Der Teufel tanzt es mit mir. Wahnsinn, fass mich an, Verfluchten! vernichte mich dass ich vergesse, dass ich bin! dass ich aufhöre, zu sein, dass ich ver...“

Und Alma, auf die sich die Exklamationen beziehen, wird am Schluss direkt angesprochen:

„für dich leben! für dich sterben! Almschi!“

Waren diese Ausrufe nur für ihn selbst und Alma bestimmt? Oder wollte Mahler, der sehr wohl wissen musste, daß Handschriften von seiner Hand als Kostbarkeiten  bewahrt werden würden, gewissermaßen die Nachwelt zum Zeugen seiner Seelenqual machen? Sein Wunsch, geäußert in den letzten Monaten seines Lebens, man möge das Manuskript nach seinem Tod verbrennen, scheint auf die erstere Version hinzudeuten. Allerdings: um sicher zu gehen, dass Privatestes nicht in fremde Hände gerate, hätte Mahler selbst das Manuskript vernichten müssen, wie dies etwa Brahms im Falle von Skizzen und verworfenen Werken mit eiserner Konsequenz getan hatte. So dokumentiert nun diese letzte Mahlersche Handschrift nicht nur ein Spätwerk von imponierender Konzeption, sondern auch die vielschichtige und rätselhafte Persönlichkeit ihres Schöpfers.  

Erwerbungsgeschichte des Mahler-Werkes „wie ein Kriminalroman“ 

Das letzte Werk Mahlers gehört zu den großen unvollendeten Schöpfungen der Musikgeschichte, ähnlich wie Bruckners 9. Sinfonie oder Mozarts Requiem, die bereits seit langem zu den kostbarsten Besitztümern der Musiksammlung zählen. „Wie ein Kriminalroman“ (Günter Brosche) mutet die Erwerbungsgeschichte des Mahler-Werkes durch die Österreichische Nationalbibliothek an. Das Manuskript war in den 1960er Jahren entweder noch von Alma Mahler selbst oder von ihren Erben geteilt worden; während die Sätze 1, 4 und 5 im Besitz der Familie Mahler verblieben, gelangten die Sätze 2 und 3 über die Familie Rosé und den Autographenhandel an einen österreichischen Privatsammler. Dessen Versuch, die Originalhandschrift auszuführen und in London bei Sotheby’s versteigern zu lassen, konnte verhindert werden; im November 1990 wurden die beiden Sätze von der Österreichischen Nationalbibliothek gekauft.

Schwieriger gestaltete sich, nach einem Bericht Günter Brosches, des damaligen Leiters der Musiksammlung, der Erwerb der übrigen Werkteile: „Sofort eingeleitete, anfänglich positiv verlaufende Verhandlungen mit der Besit-zerin in London über den Ankauf der weiteren Manuskriptteile schienen ergebnislos, als diese, vermehrt um einige Skizzenblätter zum selben Werk, am 17. Mai 1991 in einer Auktion bei Sotheby's in London versteigert werden sollten. Die Schätzwerte lagen um einiges über dem früher von Verkäuferseite genannten Preis. 

Eine Pressecampagne führte dazu, dass knapp vor der bereits angekündigten Auktion der Musiksammlung das Angebot gemacht wurde, zum unteren Schätzwert direkt zu kaufen und von der Versteigerung abzusehen. Die Mittel reichten aber nicht aus und waren überdies nicht sofort flüssig. Buchstäblich in letzter Minute gelang es dem beispielhaften Einsatz Prof. Hascheks (gest. 31. 3. 1993) mit Dir. Mag. Dr. Johannes Attems binnen weniger Tage die Gesamtsumme zur Verfügung zu stellen und den Differenzbetrag zwischen bewilligten staatlichen Mitteln und Kaufpreis (einschließlich Provision und Spesen) der Republik Österreich zu schenken.“


Dr. Thomas Leibnitz ist Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.


Corona-bedingt kann der Expertenvortrag „Gustav Mahler: 10. Sinfonie“ im Rahmen der Reihe „Das besondere Objekt“ nur als Online-Version erscheinen.

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